Paul Eichengrün (2.v.r.) war von 1932 bis 1933 zweiter Vorsitzender von Schalke 04., Quelle: ISG Gelsenkirchen

Paul Eichengrün

Geboren am 02.01.1905 in Witten, Deutschland
1985 in USA
Funktionär
2. Vorsitzender

Paul Eichengrün im Kreise seiner Familie., Quelle: ISG GelsenkirchenDr. Paul Eichengrün ist 2. Vorsitzender des FC Schalke04, als die Nationalsozialisten Anfang 1933 an die Macht in Deutschland kommen. Erst im Vorjahr haben die Vereinsmitglieder den beliebten 32-jährigen Zahnarzt, der seit 1925 in Gelsenkirchen praktiziert, in den Vorstand gewählt.

Unmittelbar nach der Machtübergabe beschließen die Nationalsozialisten, alle gesellschaftlichen Organisationen und damit auch den Sport gleichzuschalten. Bis der Deutsche Fußball-Bund seinen Vereinen die nationalsozialistische Einheitssatzung vorschreibt, führen viele Clubs, darunter auch Schalke 04, diese in einer Art vorauseilenden Gehorsams früher ein. Demokratische Prinzipien wie die freie Wahl des Vorsitzenden existieren nicht mehr. Angesichts dieser drohenden Veränderungen gibt Eichengrün auf der Mitgliederversammlung 1933 sein Amt auf.

Nach einem Bericht der „Gelsenkirchener Zeitung“ bedauert der Verein sein Ausscheiden: „Herr Dr. Eichengrün begründete dann noch einmal kurz seinen Austritt. Er habe geglaubt, im Interesse des Vereins gehandelt zu haben, wenn er sein Amt schweren Herzens niederlege. Er sei aber bereit, dem Verein auch weiterhin als Mitglied mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und gab der Hoffnung Ausdruck, dass der Sturm, der das Schiff von Schalke 04 nun so lange Zeit hin und her geschleudert habe, bald einer ruhigen Brise Platz mache. Er ermahnt die Versammlung, auch weiter nach der Devise zu handeln: Alles für Schalke 04!“

Gedenktafel für Paul Eichengrün und andere verfolgte Juden an der Tausend-Freunde-Mauer in der Nähe der VELTINS-Arena., Quelle: FC Schalke 04Seine Begeisterung und sein Organisationstalent widmet er ab diesem Zeitpunkt dem jüdischen Sportbund Schild, in dem sich ausgeschlossene jüdische Sportlerinnen und Sportler zusammenfinden. Eichengrün wirkt als Fußball-Obmann. Er führt Spielerpässe ein und ordnet an, dass Regeländerungen, die der Deutsche Fußball-Bund beschließt, ungeachtet der eigenen Ausgrenzung auch von Schild übernommen und eingehalten werden.

Beruflich muss Eichengrün bald schwere Verluste hinnehmen. Die nationalsozialistische Hetze führt dazu, dass zunehmend viele Patienten wegbleiben. Die Einnahmen decken kaum noch die Ausgaben. Zudem sperren die Machthaber sämtliche Konten Eichengrüns, für jede noch so geringe Auszahlung oder Überweisung muss er eine schriftliche Genehmigung einholen.

Trotz fortschreitender Ausgrenzung entschließen sich Paul Eichengrün und seine Frau Ilse erst spät, mit ihren Kindern Lore und Werner Deutschland zu verlassen. In der Reichspogromnacht 1938 zerstören die Nazis das Wohnhaus der Eichengrüns. In einem Wortlautinterview des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen erinnert sich Lore, die sich nach der Flucht in die USA in Laura umbenennt: „Und dann kamen sie in unser Haus, bestimmt 20, 25 Leute. Vater kannte einige, weil sie seine Patienten gewesen waren. Sie waren wie wilde Tiere. Sie stürmten in die Küche, sie zerstörten alles.“ Am Ende nehmen die Nazis Paul Eichengrün fest und inhaftieren ihn in der Polizeistation. Seiner Frau gelingt es jedoch, ihren Mann gegen eine hohe Kaution freizukaufen.

Die schrecklichen Erlebnisse führen bei den Eichengrüns zum Umdenken. Im Februar 1939 schicken sie ihre Tochter und ihren Sohn mit einem der so genannten Kindertransporte, die die jüdische Gemeinde in Großbritannien mit der dortigen Regierung unter Duldung der Nationalsozialisten ausgehandelt hatte, nach England. Dort nehmen Pflegefamilien Lore und Werner auf. Die Geschwister sind nun in Sicherheit, wissen jedoch nicht, ob sie ihre Eltern jemals wiedersehen. Erst drei Wochen vor Kriegsbeginn gelingt auch dem Ehepaar Eichengrün dank Bürgschaften die Ausreise ins Königreich. Im Oktober 1940 kann die Familie in die USA ziehen.

In Nordamerika darf Dr. Paul Eichengrün jedoch nicht mehr als Zahnarzt arbeiten, weil die Nazis ihm den Doktortitel entzogen haben. Die „Mitteilung über die Aberkennung des akademischen Grades“ der Medizinischen Fakultät Heidelberg wird im „Deutschen Reichsanzeiger“ am 11. Februar 1942 veröffentlicht. Sie und beruft sich auf § 2 des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933, nach dem Eichengrün „der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt worden“ sei. „Der Entziehungsbeschluss ist mit der Veröffentlichung im Deutschen Reichsanzeiger rechtskräftig.“ Eine öffentliche Rehabilitierung oder eine persönliche Entschuldigung erfolgt seitens der Hochschule nicht, wenngleich in den Fünfzigerjahren in den Akten vermerkt wird, dass die Entziehungen aus politischen Gründen grundsätzlich als annulliert zu betrachten sind. In den Vereinigten Staaten findet Paul Eichengrün schließlich als Zahntechniker Arbeit und überschaubares Einkommen. Er stirbt 1985, seine Frau Ilse bereits 1960.

Die Geschichte der Familie Eichengrün ist auf erstaunliche Weise bis zur Gegenwart mit Gelsenkirchen und auch dem FC Schalke 04 vernetzt: Laura Eichengrün, die nach ihrer Heirat in den USA Laura Gabriel heißt, besucht als Überlebende des Völkermords an den Juden auf Einladung der Stadt Gelsenkirchen 1998 ihren Geburtsort und die Stätten ihrer Kindheit. Sie hilft dem Institut für Stadtgeschichte, das Schicksal ihrer Familie und ihre Erfahrungen vom Kindertransport zu publizieren. Seit einigen Jahren steht der S04 mit ihrem Sohn Lawrence in Kontakt. Er ist mit dem Ruhrgebiet verbunden, denn er arbeitet für eine Tochtergesellschaft der aus der früheren Ruhrkohle AG hervorgegangenen Evonik Industries im US-Bundesstaat New York. Die Leidenschaft für den S04 hat Paul Eichengrün seinem Enkel vererbt. Er hat bereits mehrmals den Herzensvereins seines Großvaters besucht und schaut regelmäßig die Übertragungen der Bundesliga-Spiele.

Paul Eichengrün hat der FC Schalke 04 wie vielen anderen jüdischen Schalkern 2013 mit einer Gedenktafel für entrechtete, verfolgte, deportierte und ermordete jüdische Schalker an der Tausend-Freunde-Mauer der VELTINS-Arena eine bleibende Erinnerung geschaffen.

Autor: Christine Walther / Thomas Spiegel

Literaturverweise
"Spurensuche - Jüdische Schicksale auf Schalke", Gelsenkirchen 2019; Königsblau, Die Geschichte des FC Schalke 04, Gelsenkirchen 2015; Dr. Stefan Goch / Norbert Silberbach, Zwischen Blau und Weiß liegt Grau: Der FC Schalke 04 in der Zeit des Nationalsozialismus, Gelsenkirchen 2005
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